Du überlegst, ob du deine Judoprüfung unter dem Aspekt der Selbstverteidigung (SV) anstelle des üblichen Wettkampfbezugs durchführst?
Ich habe genau dies bei der Prüfung zu meinem ersten Dan getan und kann dir dementsprechend ein bisschen über die Vorbereitung und Durchführung erzählen.
Der Post soll keine Anleitung werden, eher ein Erfahrungsbericht. Zudem soll er dir helfen dich zu entscheiden, ob du unter diesem Aspekt geprüft werden möchtest, oder „herkömmlich“. Die gezeigten Ausführungen können dir hierbei als Anhaltspunkt für eigene Überlegungen und Techniken dienen.
Eines sei vorweg gesagt:
Die Judoprüfung mit SV Teil abzulegen ist sicher schwerer.
Aber von vorne…
Warum habe ich mich für eine Prüfung unter Selbstverteidigungs-Aspekt entschieden?
Die Entscheidung meine Prüfung in dieser Art abzuhalten ist mir relativ einfach gefallen. Dies hat mehrere Gründe:
- Ich bin kein Wettkämpfer. Ja, ich war schon auf ein paar Turnieren, bin aber weit davon entfernt da Ambitionen zu haben. Ich bin also eher der typische(?) Breitensportler, wie man so schön sagt. Ich finde das Konzept des Wettkampfes im Judo gut und denke auch, dass dies fest zu unserer Sportart gehört. Allerdings halte ich viele Ausprägungen die sich um dieses Thema herum entwickelt haben nicht für sehr begrüßenswert (dies sah Kano wohl ähnlich). Dementsprechend bin ich auch niemand der eine „Spezialtechnik“ hat (das Wort /Konzept per se finde ich schon nicht gut, aber dazu könnte ich jetzt auch einiges schreiben…).
- Ich empfinde den Selbstverteidigungsaspekt als einen Punkt, der im aktuellen Judo zu wenig Beachtung findet, obwohl er klassischerweise durchaus Teil des Judo ist – nur halt wenig Platz in der wettkampforientierten Ausrichtung finden kann.
- Ich denke durch einen gesteigerten Teil an SV-Inhalten im Unterricht kann man diesen gut ergänzen und augmentieren. Sowohl Schüler, als auch Lehrer profitieren davon.
- Durch mein Bujinkan-Training habe ich einige SV-relevante Inhalte gut verinnerlicht und wollte diese unter dem Judo-Aspekt und in einer entsprechenden Durchführung beleuchten und damit herumprobieren.
- Ich dachte zugegebenermaßen auch, dass mir die Vorbereitung unter dem zuvor genannten Gesichtspunkt vielleicht leichter fällt (warum dem nicht so war kommt später). Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich den ersten Dan im Bujinkan und zudem die Shidoshi-Ho (Assistenztrainer) Lizenz inne. Da sollte das hier doch ein Kinderspiel sein, oder?
Jetzt schrieb ich ja: Spezialtechniken finde ich doof. Aber Spezialtechnik gibt’s ja auch bei der Selbstverteidigung?
Ja, stimmt. Also zumindest die Anforderung. Und hier musste ich mir dann auch eine Spezialtechnik „ausdenken“. Ich verstehe schon, warum man diese Anforderung hier stellt. Schließlich kann man so abfragen, wie der Prüfling generell an das Erlernen/Üben einer Technik herangeht. Zudem prüft man hier grundlegend die Überlegungen, welche zu einer Technik getroffen werden und wann diese funktioniert (bzw. wann nicht). Mich stört hier also mehr das Wort „Spezialtechnik“, als die tatsächliche Umsetzung.
Was meine ich jetzt mit Spezialtechnik „ausdenken“? Naja, eigentlich nur, dass ich mir eine Technik aussuchen sollte, die ich ähnlich häufig übe, wie andere Techniken und vergleichbar häufig in SV-Situationen angewendet habe (zum Glück: Nie!). In meinem Fall ist es dann O-Soto-Gari geworden. Meine genauen Prüfungsinhalte werde ich aber mal gesondert in einem Post zusammenfassen.
Das Training – Spezielles Augenmerk auf Selbstverteidigung
Das Training für den Selbstverteidigungsteil der Prüfung gestaltet sich tatsächlich anders als gedacht. Da nur wenige Vereine regelmäßig SV in ihren Übungsstunden anbieten (auch wir tun dies eher selten) dürften viele erst mal eine ungewohnte Freiheit spüren. Diese erkauft man sich mit Selbstständigkeit und Eigenverantwortung. Natürlich kann ich meinen Trainer um Tipps bitten. Aber dies ist eine der Situationen in denen er das nicht selber schon alles durchgemacht hat.
Das Training bestand also zu großen Teilen aus Try & Error. Zum Glück war es häufiger Try als Error, aber wir hatten da schon lustige Ideen. Da mein Trainingspartner Sebastian auch SV-Erfahrung aus diversen anderen Kampfkünsten mitbringt, hatten wir beide eine Menge Ideen, die wir ausprobiert haben.
Es gab hierbei jedoch zwei Punkte, welche das Training umständlicher machten als zunächst angedacht:
- Es gibt keine klare Vorgabe wie die Aufgabe zu lösen ist, dementsprechend probiert man in viele Richtungen aus und kann sich hierbei schnell in einer Masse an möglichen Techniken verlieren.
- Man kann schlecht abschätzen, was die Prüfer sehen wollen.
Gerade den zweiten Punkt bedenken zu müssen ist natürlich „anstrengend“. Ich sollte mir keine Gedanken darum machen (müssen), ob ein Prüfer die Aufgabe so gelöst sehen möchte, wie ich sie umzusetzen gedenke. Aber zwangsläufig macht man dies natürlich. Dazu kommt, dass viele Prüfer wenig Erfahrung im Prüfen der SV haben und dementsprechend selber vielleicht nicht wissen, was sie hier erwarten sollen (vielleicht trete ich hier den Prüfern aber zu nahe – sagen wir lieber: Ich gehe davon aus, dass sie sehr unterschiedliche Demonstrationen bekommen). Wenn die Aufgabe klassischerweise lautet „3 Wurfverkettungen (Kombination oder Finte)“, so wissen sowohl Prüflinge, als auch Prüfer im Durchschnitt wohl mehr damit anzufangen, als wenn die „neue“ Anforderung lautet:
„Drei Verkettungen von Atemitechniken unter Berücksichtigung einer Selbstverteidigungssituation“
Warum ist dies eine schwierigere Anforderung?
- Frag bitte mal fünf Judoka, was Atemitechniken sind. Nicht mal, dass sie gar keine Idee haben. Ich glaube viel mehr, dass sehr verschiedene Dinge darunter verstanden werden (nur Schlagen? Schlagen und treten? …)
- Frag ruhig die selben Leute, was eine Selbstverteidigungssituation ist. Stände hier „Wettkampfsituation“ wäre es klar. Der Kampfrichter sagt es geht los und schon geht es los. „Auf der Straße“ wird dir wohl niemand sagen: „Hey, wir befinden uns in einer SV Situation. Ich werde gleich Atemitechniken durchführen“. Dementsprechend muss man sehr gezielt dabei vorgehen hier die verschiedenen Möglichkeiten vorzubereiten und diese auch bei der Prüfung anzusprechen (später mehr dazu)
„Drei Abwehrtechniken gegen Umklammerungsangriffe“. Ah hey… Das ist einfach… Und klar definiert. Super. Oder an welchem Punkt sollte ich hier einsteigen? Wurde ich schon
gegriffen? Ist es dann noch ein Angriff? Will mich jemand greifen, hat es aber noch nicht getan? Die klassische Sen-Sen-No-Sen, Sen-No-Sen, Go-No-Sen Fragestellung. Dies mal vorab: Wir haben uns zu großen Teilen auf Go-No-Sen konzentriert und ein wenig Sen-No-Sen behandelt.
Die Dan-Vorbereitungslehrgänge
Ich hatte das Glück meinen Vorbereitungslehrgang in Rheda-Wiedenbrück bei Birgit (u.a. IJF und EJU zertifiziert für die Nage-No-Kata, als auch die hier nicht unwichtige Kodokan-Goshi-Jutsu) und Rainer Andruhn (unserem Kreis-Dan-Vorsitzenden) wahrzunehmen. Erstens kann man sich hier immer darauf verlassen überaus freundliche und hilfsbereite Menschen zu treffen (sowohl die Referenten, als auch die Teilnehmer) und zweitens haben wir hier auch zum Thema Selbstverteidigung wichtige Hinweise erhalten.
Die wichtigsten Punkte, die uns hier genannt wurden waren nicht unbedingt Hinweise zur konkreten Technikausführung, sondern eher folgendes:
- Bedenke alle Phasen der SV-Situation. Nicht alle Prüfer verstehen unter einer Angriffsituation einen schon erfolgten Angriff (das ist das, was ich weiter oben mit Go-No-Sen, etc. meinte). Vielmehr sollte man auch ausführen, wie man generell entsprechende Situationen vermeiden kann und ggfs. (de)eskaliert, statt direkt zu einer Technik überzugehen
- Erkläre deine Spezialtechnik vor allem aus Judo-spezifischer Sicht. Wir sind immer noch auf einer Judo-Prüfung. Dementsprechend liegt auch dort der Fokus, und nicht etwa auf der biomechanisch optimalen Ausführung eines Trittes. Die Prüfer werden stattdessen darauf achten, ob dein Wurf (/Würger/…) sitzt und bei der Selbstverteidigung situativ angemessen ist
- Eben jene Angemessenheit sollte gegeben sein und erläutert werden. Wenn mich jemand schubst muss ich ihn nicht abwürgen. Wenn er versucht mich ernsthaft zu verletzen kann ein Wurf durchaus angemessen sein
- Da die Prüfer natürlich wissen, dass SV geprüft werden kann sind sie dementsprechend informiert, aber man sollte nicht davon ausgehen, dass sie einen hohen Kenntnisstand von reinen SV-Systemen haben
- Dementsprechend können und werden viele Nachfragen kommen. Diese können auch durchaus über das regulär geforderte Programm hinausgehen.
- Besonders empfohlen wurde uns vor der Prüfung (bzw. in der Pause nach der Kata) an den Prüfungstisch zu gehen und die Prüfer darauf hinzuweisen, dass die Prüfung unter dem Selbstverteidigungs-Aspekt abgelegt wird. So können sich auch die Prüfer entsprechend vorbereiten (in der Praxis also schnell die Dokumente hervorsuchen und sich daran erinnern, was gefordert ist)
Während der Prüfung
Wie im Vorfeld besprochen ging ich vor dem Prüfungsteil meines Standprogramms auf die Prüfer zu und teilte ihnen mit, dass ich die Prüfung gerne unter dem Selbstverteidigungs-Aspekt ablegen würde. Dies führte teils zu interessierten Blicken, teils aber auch zu gemurmelten Kommentaren, die
ich nur als Missmut verstehen konnte. Schnell wurden Unterlagen hervorgeholt um nachzuschauen, was nun verlangt wird.
Darauf war ich vorbereitet, soweit kein Problem. Ich habe dann meine Techniken in gefordertem Umfang gezeigt und mir Mühe gegeben die Erklärungen möglichst ausführlich darzulegen, da mir bewusst war, dass hier viele Vorstellungen davon, was gezeigt und erklärt werden sollte unter einen Hut zu bringen waren.
Besonderen Wert habe ich dabei auf die Erläuterung der situativen Angemessenheit der Techniken gelegt.
Das Interesse der Prüfer ging hier recht weit auseinander. Es wurden sowohl Fragen gestellt, welche auf mich von ernstem Interesse zeugten, als auch andere, welche eher provokant aufgenommen werden könnten. Hierbei kamen auch Aspekte zum tragen, welche offiziell erst zum zweiten Dan verlangt sind („was machst du, wenn deine Spezialtechnik verhindert wird?“…).
Spätestens ab der Frage „welche Nervpunkte gibt es im Bereich des Kopfes?“ und meiner – scheinbar unerwartet ausführlichen – Antwort inklusive Demonstration wurde dieser Prüfungsteil deutlich positiver aufgenommen. Ich hatte das Gefühl den Prüfern meine Befähigung zur Bewältigung der Aufgabenstellung demonstriert zu haben und so schienen diese es auch zu sehen. Der Teil der Dan-Prüfung war damit (erfolgreich) erledigt.
Würde ich dir empfehlen deine Judo-Prüfung unter dem Aspekt der Selbstverteidigung abzulegen?
Ein klares Jein.
Wenn du es als Herausforderung siehst und Spaß, so wie Interesse an Selbstverteidigung hast und dies in einem möglicherweise neuen Kontext üben möchtest ist dies eine super Möglichkeit.
Ich konnte aber bspw. feststellen, dass bei allen Prüflingen, die „regulär“ geprüft wurden deutlich weniger Fragen gestellt wurden. Natürlich kann ich hier nur mutmaßen, dass es nicht daran liegt, dass ich so schlecht war (hier hätten Nachfragen möglicherweise mein Prüfungsergebnis retten können), sondern das genuines Interesse bestand, so wie geprüft werden sollte, was ich wirklich darüber weiß und ob ich mir das Ganze nicht nur als einfacheren Umweg gesucht habe.
Wenn du also eher der klassische „Sportjudoka“ bist, vielleicht sogar regelmäßig an Wettkämpfen teilnimmst und hier deine etablierten Techniken vorzuweisen hast ist die „klassische“ Prüfung vermutlich zumindest einfacher für dich.
Welchen Weg du gehen willst hängt natürlich stark davon ab, was deine Überlegungen und Ziele in deinem Judo-Leben sind.
Ich würde mich sehr über Kommentare freuen. Wie siehst du diese Thematik? Hast du vielleicht auch schon Erfahrungen mit einer SV-Prüfung gemacht? Oder zumindest schonmal eine gesehen?
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